Autor: A. C. Fender
Am Anfang der materiellen Schöpfung schuf der absolute Herr in seiner transzendentalen Position durch Seine Innere Energie die Kräfte von Ursache und Wirkung. Nachdem der Herr die materielle Substanz geschaffen hat, erweitert er Sich und geht in sie ein. Obwohl er sich auf diese Weise in den materiellen Erscheinungsweisen der Natur befindet und eines der geschaffenen Wesen zu sein scheint, ist Er in Seiner transzendentalen Position immer völlig erleuchtet.
Der Herr durchdringt als Überseele alle Dinge, ebenso wie Feuer Holz durchdringt, und so scheint er von verschiedenartiger Gestalt zu sein, obwohl Er als der Absolute einer ohne einen Zweiten ist. Die Überseele geht in die Körper der erschaffenen Wesen ein, die von den Erscheinungsweisen der materiellen Natur beeinflusst werden, und veranlasst die Lebewesen, die Wirkungen der Erscheinungsweisen mit dem feinstofflichen Geist zu genießen. So erhält der Herr der Universen all die von den Halbgöttern, Menschen und niederen Tieren bewohnten Planeten, und in seinen Spielen nimmt Er die Rolle verschiedener Inkarnationen an, um diejenigen zurückzurufen, die sich in der Erscheinungsweise der reinen Tugend befinden. (Srimad Bhagavatam 1.2. 31-34)
Am Ende des Zeitalter, als die Persönlichkeit Gottes, Narayana, Sich auf das Wasser der Vernichtung niederlegte, gingen sowohl Brahma, zusammen mit allen Schöpfungselementen, als auch ich durch Seinen Atem in Ihn ein. (SB 1.6.29)
In diesen wenigen Sätzen werden grundlegende Annahmen der vedischen Kosmologie dargestellt: Die erste grundsätzliche Aussage ist, dass der Ursprung bzw. die urerste Ursache der manifestierten Universen intelligenter Geist ist, der durch Seine Innere Energie die Kräfte von Ursache und Wirkung erschafft. Diese Kräfte sind eine Voraussetzung für die Schaffung von Materie.
In den östlichen Traditionen wird die Materie als Maya, als ein unrealer Schein oder als Täuschung angesehen. Aber nicht die Materie ist etwas irreales, sondern es wird darauf verwiesen, dass die Formen aus Materie keine Beständigkeit (Ewigkeit) haben und auch nicht das Wesen der Dinge sind. Krishna erklärt: „Das materielle Universum kann als Realität aufgefasst werden, weil Prakriti [Materie, in der Urform als Energie] dessen ursprüngliche Substanz und Endform ist. Maha- Vishnu ist der Urgrund der Materie, die durch die Macht der Zeit (Kala) Form annimmt. Materie, der allmächtige Vishnu und Zeit sind nicht verschieden von mir, dem höchsten ewigen Ursprung.“ (SB 11.24.19)
Die zweite grundlegende Annahme vedischer Kosmologie ist, wie aus diesen wenigen Sätzen hervorgeht, dass sich der manifestierte Kosmos in einem Kreislauf aus Werden und Vergehen befindet, während der Urgrund des Seins ewigen Bestand hat. Aus dem Urgrund gehen die Universen (in Form von kosmischen Samen) hervor, bleiben für einen bestimmten Zeitraum bestehen und gehen wieder in den Urgrund ein.
Auch in der vedischen Tradition gibt es eine „Dreieinigkeit“. Nur werden hier die drei Götter Brahma, Vishnu und Shiva mit dem kosmischen Zyklus der Geburt und des Werdens (Brahma), des Erhalts (eines relativ stabilen Gleichgewichts für eine bestimmte Zeit) (Vishnu) und des Vergehens, der Zerstörung (Shiva) in Verbindung gebracht.
Brahma spricht: „Durch seinen [Vishnus] Willen erschaffe ich, zerstört Shiva und erhält er selbst alles in seiner ewigen Gestalt als puruscha [göttliche Wesenheit/ Bewusstheit]. Er ist der mächtige Beherrscher dieser drei Energien (tri-sakti-dhrik)“ (SB 2.6.32)
Der Vishnuismus geht davon aus, dass Vishnu der alleinige ewig existente „Höchste Herr“ im Universum ist, der als erstes den Halbgott Brahma hervorbrachte und dieser unter anderem den Halbgott Shiva. Andere Traditionen besetzen die Bedeutung der drei vedischen Gottheiten anders. Gemeinsam ist jedoch allen die vedische Grundannahme, dass das Universum sich in einem ewigen Kreislauf aus Werden, zeitweiliger Stabilität und Vergehen bzw. Auflösung befindet. Dieser Zyklus des Kosmos beinhaltet viele Unterzyklen und basiert auf Gesetze.
Ein Grundgesetz ist, dass sich alles, was manifestiert wurde, in unaufhörlicher Bewegung befindet. Ein weiteres Gesetz ist, das es verschiedene kosmische Ebenen gibt (der Kosmos ist strukturiert aufgebaut) und jede Ebene befindet sich in einem zyklischen Prozess aus Werden, zeitweiliger Stabilität und Vergehen.
„Einflussreiche Sterne, Planeten, die leuchtenden Konstellationen und andere bis hin zu den Atomen im gesamten Universum folgen ihren jeweiligen Umlaufbahnen (spiralförmig kreisend) und vollenden mit ihren Kreisläufen eigene Jahre mit unterschiedlicher Dauer.“ (SB 3.11.13)
Es war demnach schon vor Jahrtausenden bekannt, dass Zeit relativ ist und zwar abhängig von der Seinsebene (vom Mikrokosmos bis zum Makrokosmos) und auch von der Struktur der Systeme. In den Veden wird von kosmischen Zyklen berichtet, yugas (Weltalter) genannt. Ein divya- yuga zum Beispiel besteht aus vier Weltaltern (das goldene, silberne, kupferne, das eiserne) und dauert 4 320 000 irdische Jahre. Tausend solcher Zyklen, das sind 4,32 Milliarden Jahre, entsprechen einem Tag im Leben Brahmas, des Schöpfergottes eines Universums. Jedem Tag folgt eine Nacht von gleicher Länge. Ein Tag und eine Nacht Brahmas (8,64 Milliarden Jahre) ist in etwa die (durchschnittliche) Zeit eines Sonnensystems. Mit der Geburt von neuen Sternen aus dem Staub der alten beginnt ein neuer Tag Brahmas. 360 Tage und Nächte ergeben ein Jahr Brahmas. Das sind circa 3,1104 Billionen Jahre. Brahmas Leben, damit das eines Universums (einer Galaxie?), dauert 100 kosmische Jahre oder etwa 311,04 Billionen Jahre, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Zeit keine absolute Größe ist, sondern von Systemen und der Dichte des Raumes abhängig sind. (vgl. S.J. Rosen: „Der verborgene Schatz Indiens“)
Aber nicht nur die ungeheuerlichen räumlichen und zeitlichen Ausmaße des Kosmos scheinen den Verfassern der vedischen Schriften bewusst gewesen zu sein, sondern auch woraus alles Materielle besteht und wie es zur Bildung von Formen kam:
Alle feinstofflichen Elemente (nichtmaterielle Substanzen und Energien) sind in ihren grobstofflichen Wirkungen gegenwärtig; ebenso sind alle grobstofflichen Elemente in ihren feinstofflichen Ursachen gegenwärtig (als Information enthalten), denn die materielle Schöpfung geschieht durch die abfolgende Entfaltung von höheren zu niederen Elementen. So sind alle Elemente in jedem einzelnen Element zu sehen. (SB 11.22.8)
Etwas Geschaffenes schafft etwas anderes durch Umwandlung. Auf diese Weise wird es Ursache und Grundlage eines anderen geschaffenen Objektes. Jedes geschaffene Objekt ist deshalb ebenfalls Realität, und zwar in dem Sinn, dass es das essentielle Wesen eines anderen [höheren] Ursprungs in sich birgt und dahin zurückkehren wird. (SB 11.24.18)
Fazit: In Form der materiellen Universen bringt etwas Immaterielles zeitweilig Schöpfungen auf verschiedenen Ebenen hervor, wobei das Immaterielle die materielle Schöpfung durchdringt und ihm seine Form, seine Funktionen und Eigenschaften gibt. Der materielle Kosmos geht zyklisch aus dem ewigen Urgrund hervor und wieder in ihn ein. Seine Formen sind nicht zufällig, sondern verwirklichte Muster oder „Ideen“ des Formenden. Somit spiegeln die Schöpfungen die Ideen des Ewigen wider, wenn auch in begrenztem Ausmaß.